Postmoderne Punktion
Helga Flotzinger
17. mei 2019
Eingangsfassade. Bild: Martin Tusch
Helga Flotzinger hat in Innsbruck ein Ladenlokal in einem Bau aus der Zeit des Nationalsozialismus zu einer Ordination umgestaltet. Die Architektin stellt sich unseren Fragen.
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?Die Intention bestand darin, dem schweren Nazi-Bauwerk aus gestocktem Beton und braunem Putz eine gezielte Injektion moderner Leichtigkeit und Frische zu verpassen, die vitalisierend auf die Umgebung wirkt – eine präzise architektonische Punktion in historischem Bestand.
Ich schätze die postmoderne Freiheit zu erzählen, Geschichtlichkeit zu zeigen und Referenzen aus der Architekturgeschichte zu collagieren. Entstanden ist eine Bricolage aus unterschiedlichen Zeiten, Materialien und Formen.
Rezeption. Bild: Martin Tusch
Hinter dem Schalter. Bild: Martin Tusch
Welche Inspirationen liegen diesem Projekt zugrunde?In der Praxis strahlen 38 Rundleuchten, die in einem strikten geometrischen Raster an der Decke aufgehängt sind, und spiegeln sich in den Glasoberlichten. Dies befördert die Illusion eines deutlich größeren Raumes. Inspiration dafür war die Gestaltungen von Hermann Czech, etwa das Kleine Cafe II (1974) in Wien. Draußen weckt das Eingangsportal mit zwei großen Bullaugen in der Tür und dem filigranen weißen Geländer an der vorgelagerten Rollstuhlrampe Erinnerungen an Hans Scharouns Schiffsarchitekturen der 1930er-Jahre. Die symmetrische Straßenfassade mit einem geknickten Vordach und zwei großen Rundbogenfenstern mit Messingrahmen, die links und rechts des Eingangs sitzen, lässt an Hans Holleins Geschäftsportale denken, zum Beispiel jene des Kerzengeschäfts Retti (1965) oder des Juweliergeschäfts Schullin (1981) in Wien.
Behandlungsraum. Bild: Martin Tusch
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?Im Innsbrucker Ortsteil Pradl herrschte Anfang der 1940er-Jahre rege Bautätigkeit. Hunderte Wohnungen wurden in dem südwestlich der Sill gelegenen Quartier errichtet, vor allem im Rahmen der sogenannten »Südtiroler Sonderaktion« des nationalsozialistischen Regimes. Zur selben Zeit entstand an der Prinz-Eugen-Straße eine lange, geschlossene Zeile von Wohnhäusern mit 140 Wohnungen für Reichsbedienstete mit Geschäftslokalen und einer Poststelle im Erdgeschoß. Nach dem Zweiten Weltkrieg im Besitz des Bundes, wurden die Wohn- und Geschäftsflächen ab 2012 durch die BUWOG verkauft. Die Arztpraxis, die in einem der ehemaligen Ladenlokale eingerichtet wurde, zeugt von den sich ändernden Verhältnissen: Damals Stadtrand, ist die Gegend heute ein beliebter Wohnstandort nahe dem Stadtzentrum. Dort werden Häuser saniert und erweitert, es wird verdichtet und die Bevölkerung wächst von Jahr zu Jahr.
Die Zusammenarbeit mit der Ärztin war, besonders hinsichtlich der funktionellen Abläufe, äußerst intensiv. Es wurde im Mini- bis Mikromaßstab gedacht und entworfen.
Therapieraum. Bild: Martin Tusch
Axonometrie. Bild: Helga Flotzinger
Welches Produkt oder Material hat zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?Nach der Methode der Bricolage wurde auch innen gearbeitet: Ein modulares Möbelkonzept aus Sperrholzkisten bietet maßgeschneiderten Stauraum für das vielfältige Inventar der Ordination vom Therapiegerät bis zum Handtuchspender. Im Zentrum des Grundrisses wurde durch Stapeln, Überlappen und Ineinanderschieben der einzelnen Kisten ein Raum im Raum geschaffen, der verschiedene Funktionen effizient organisiert. Das Modulsystem bringt Ordnung in das dicht gepackte Arrangement und optimiert die Arbeitsabläufe. Die stark gemaserten Oberflächen der günstigen Sperrholzplatten, aus denen die Möbel gebaut sind, wirken dabei sehr hochwertig, den erschwinglichen Baustoffen wird im Sinne einer Alchemie eine edle Anmutung entlockt.
Eingangsfassade. Bild: Helga Flotzinger
Grundriss. Bild: Helga Flotzinger
Möbel der Rezeption. Bild: Helga Flotzinger
Möbel Therapieraum. Bild: Helga Flotzinger
Ort Prinz-Eugen-Straße 72, Innsbruck
Bauherrschaft privat
Architektur Helga Flotzinger, Innsbruck
Möblierung Helga Flotzinger mit Doris Bayer
Bauleitung Werner Kleon, Innsbruck
Bauingenieur dibral: Alfred Brunnsteiner, Natters
Jahr der Fertigstellung 2017
Maßgeblich beteiligte Unternehmen Möbeltischler: Tischlerei Spettel, Alberschwende | Bautischler: Johann Nagiller, Ellbögen | Schlosser: Metallbau Dekassian, Völs | Beleuchtung: Cari plant licht, Innsbruck | Signaletik: ÖFRA, Innsbruck
Fotos Martin Tusch